Who the f*** is Johanna Müller?

Johanna Müller, Preisträgerin des Pax Art Awards 2023 für aufstrebende Künstler:innen, bezeichnet sich als Internet-Flaneurin und hinterfragt unsere Interaktionen und Verhaltensweisen in der digitalen Welt. Derzeit ist sie in der laufenden Ausstellung «UBERMORGEN, Johanna Müller & Giulia Essyad. Swiss Media Art – Pax Art Awards 2023» im HEK zu sehen, in der sie zwei neue, von Art Foundation Pax geförderte Werke neben bereits bestehenden Arbeiten präsentiert. In diesem Interview gibt sie Einblicke in ihre künstlerische Praxis, Perspektiven zum Thema KI und regt eine Internet-Revolution an.

Isabella Maund: Who the f*** is Johanna Müller?

Johanna Müller: Als bildende Künstlerin beschäftige ich mich vor allem mit gesellschaftlichen Narrativen, etablierten Machtverhältnissen und Deutungshoheiten. Ich beobachte sie und versuche, diese dann zu dekonstruieren, wobei ich mich auf die Beziehung zwischen den Nutzer:innen und dem Internet sowie analogen Räumen konzentriere. Das Internet ist ein Spiegelbild unserer Welt. Bestimmte Teile unseres Lebens verlagern sich in den digitalen Raum, Beziehungen verändern sich. Was mich interessiert, sind die Interaktionen zwischen Nutzern:innen und Räumen, wobei die Kernfrage lautet: Wie orientieren wir uns in einer komplexen Welt, die immer komplizierter wird?

IM: Du bezeichnest dich selbst als «Internet Flâneurin». Kannst du uns sagen, woher das kommt und wie es sich auf deinen künstlerischen Prozess auswirkt?

JM: «Internet Flâneurin» war eine Idee, die mir in meiner Masterarbeit kam. Dabei stiess ich auf die literarische Figur des Flaneurs, die ihren Ursprung im Paris des 19. Jahrhunderts hat und traditionell männlich ist. Der Flaneur irrt als Beobachter und Sammler ziellos durch die Stadt. Durch seinen Reichtum, der ihm das Privileg dieser Rolle gewährt, ist er von der Gesellschaft abgekoppelt. Ich habe diese Figur in einen zeitgenössischen Kontext übersetzt und einfach die Strassen von Paris mit dem Internet vertauscht. Ich denke, es gibt starke Parallelen zwischen dem Internetsurfen und dem Flanieren. Der Flaneur wurde im 19. Jahrhundert auch als Künstler bezeichnet, er bearbeitet all die Dinge, die er gesammelt hat, und setzt sie in einen neuen Kontext. Mir gefällt es, all diese Internetphänomene zu sammeln und sie in einen neuen Kontext zu übertragen.  Es geht darum, etwas zu machen und sich nicht nur zu bewegen, und genau deshalb beschreibt es das, wie ich arbeite, sehr gut.

IM: In deiner Ausstellung im HEK verkörperst du diese überlebensgrossen Persönlichkeiten, wie z.B. in den Arbeiten «Who the f*** is Karen (Don’t show feelings)­» and «Lost in the Hidden Hills­». Es scheint, als gäbe es ein  Thema “Wir gegen sie”.  Welche Rolle spielen Machtverhältnisse in deinen Arbeiten?

JM: Ich glaube, dass beide Werke Ähnlichkeiten aufweisen, sich aber auch in ihren Beweggründen unterscheiden. «Who the f*** is Karen (Don’t show feelings)­» ist ein 15-minütiges Video mit «Karen», einer Internet-Meme-Figur, die die vergessliche weisse Frau darstellt, die ihre Privilegien ausnutzt und somit afroamerikanische Menschen gefährdet. Also habe ich beschlossen, «Karen» zur Therapie zu schicken. Im Text wird ein therapeutisches Gespräch simuliert, das in den Untertiteln zu sehen ist, während ich im Video die Rolle von «Karen» spiele, jedoch nur als Platzhalter. Meine körperliche Darstellung repräsentiert Zeichen des Konflikts, wie z.B. eine bandagierte Hand und ein geschwärztes Auge. Das Video ist nicht koloriert, und der ungenutzte Greenscreen präsentiert die unvollständige Erfüllung des Platzhalters. Mein Ziel ist es, Karen zu vermenschlichen, da wir alle ähnliche Privilegien besitzen, die von weissen Europäer:innen oft nicht sichtbar sind. Im aktuellen Kontext der überarbeitung der Kolonialgeschichte war es mein Ziel, «Karen» verletzlich zu machen und die Komplexität der gesellschaftlichen Machtdynamik, durch verschiedene Platzhalter, im Dialog und im Video zu betonen.

«Lost in the Hidden Hills» (2024) von Johanna Müller, ausgestellt im HEK. Bild: Franz Wamhof

IM: Wie viel von Johanna bleibt in diesen Darstellungen zurück?

JM: Ich sammle verschiedene Referenzen für die Arbeit von überall her. Für «Karens» Therapiegespräch habe ich mich von Dating-Plattformen, persönlichen Gesprächen, Therapiesitzungen sowie von Filmen, Serien und Zeitschriften inspirieren lassen. Diese Elemente verschmelzen zu einer Collage meiner Realität, die ich erweitere, um eine breitere Perspektive zu bieten. Ich spiele in meinen Videoarbeiten oft Figuren aus praktischen Gründen; ich kann einfach eine Kamera aufstellen und etwas ausprobieren. Ich denke, am Ende ist es eine grosse Collage, und ich kann nicht genau sagen, wo «ich» auftauche und wie. Aber ich tue es auf jeden Fall und verwische dabei die Grenzen zwischen Realität und Fiktion.

IM: Ihre Affinität zum Film ist offensichtlich. Was zieht dich speziell zu diesem Medium?

JM: Der Film ist mein Lieblingsmedium, weil er die Integration verschiedener Elemente und Ebenen ermöglicht. In «Who the f*** is Karen (Don’t show feelings)» spielt neben den Untertiteln auch der Ton eine entscheidende Rolle. Der begleitende Ton ist ein Stück von Sofia Gubaidulina, einer zeitgenössischen Komponistin in der Sowjetunion, gespielt von einem Streichtrio namens «Triologie». Die Bratschistin ist eine gute Freundin von mir, und sie dachte, es würde gut passen, weil Sofia Gubaidulina auch mit der Idee von Platzhaltern arbeitet. Also gab sie mir diese Aufnahme, die das Trio vor zwei oder drei Jahren bei ihrem Festival aufführte. Sie gibt dem ganzen Werk eine neue Ebene, und genau das ist das Interessante am Medium Film. Ich liebe auch das Schneiden, das ist mein Lieblingsteil und der Grund, warum ich angefangen habe, Kunst zu machen. Dinge auseinander zu nehmen und wieder zusammenzusetzen.

IM: Wie kam es zu dem Wechsel zu einem statischen Format wie dem Kinderspielteppich in «Invalid Credentials»? Die Ähnlichkeit des Teppichs mit Spielteppichen für Kinder ist faszinierend. Kannst du die darin enthaltenen Bezüge näher erklären?

JM: Ich habe diese Arbeit speziell für die Ausstellung im HEK geschaffen. Ich wollte eine Installation machen, weil ich denke, dass es für das Publikum zugänglicher ist. Ich mag es, mit digital-analogen Formaten zu arbeiten, also Dinge digital zu kreieren, sie auszudrucken und sie dann wieder digital zu bearbeiten. Ich mag es auch, das Spielerische und Zufällige zu erforschen. Das Gespräch, das man auf dem Teppich gedruckt sieht, handelt von einer Person, die im Café der Google-Zentrale arbeitet und in dieser verwirrenden Endlosschleife mit dem  Chatbot feststeckt. Mein Partner kommt aus Venezuela, und wir leben teilweise in Paris, daher bin ich mit der Bürokratie sehr vertraut. Und dann ist da natürlich noch die ganze Silicon-Valley-Geschichte. Verschiedene Technologieunternehmen haben in den letzten Jahren so viel Macht erlangt, dass einige von ihnen sogar einflussreicher sind als Politiker:innen. Diese Technologieunternehmen machen das Silicon Valley auch unbewohnbar, weil die Miete zu hoch ist und viele reiche Leute wie die Kardashians dorthin ziehen. Es ist ein Gebiet, das von der Trockenheit betroffen ist, aber sie bauen trotzdem ihre riesigen Pools. Es gibt Parallelen zwischen diesem Thema und dem unmöglichen Gespräch mit dem Chatbot. Es ist also auch ein bisschen ein ironischer Kommentar. Wir müssen mit diesen Hindernissen und den «Spielen» von Individuen, die keinen Bezug mehr zur Realität der normalen Menschen haben, mitspielen. Das neue Werk weist ebenfalls auf Desorientierung aus einer anderen Perspektive hin.

«Invalid Credentials» (2024) von Johanna Müller, ausgestellt im HEK. Bild: Franz Wamhof

IM: Welche Rolle sollte deiner Meinung nach Künstliche Intelligenz bei der Gestaltung unserer Welt mitspielen?

JM: Ich mache mir keine Sorgen über eine von Robotern beherrschte Zukunft; davon sind wir noch weit entfernt. Ich meine, wenn sie einem das Leben in dem Sinne erleichtern, dass sie einen bei alltäglichen Aufgaben unterstützen, dann finde ich das gut. Wenn man mehr freie Zeit hat, hat man auch mehr Raum für Kreativität. Ich habe midjourney für meine Arbeit «I worked out today and now I’m posing with my art piece» benützt, damals, als es noch seltsame Fehler gemacht hat, die zu verblüffenden Ergebnissen geführt haben. Das Stück ist jetzt als Tapete in der Ausstellung zu sehen, aber ursprünglich war es ein Video mit Musik, das von David Langhard, einem Produzenten und Musiker, komponiert wurde.

Ich denke jedoch, dass der Mensch und damit auch die grossen Tech-Giganten danach streben, etwas zu schaffen, das alle Fragen beantworten kann. Die künstliche Intelligenz ist wahrscheinlich das, was wir bisher am ehesten erreicht haben. Trotz ihrer menschenähnlichen Fassade wird sie im Wesentlichen von Algorithmen und maschineller Intelligenz angetrieben. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass KI oft Vorurteile widerspiegelt, die in Webdaten verwurzelt sind, wie z.B. Rassismus und Sexismus.

Neben meiner künstlerischen Tätigkeit unterrichte ich Human Centred Design, dass sich auf menschliche Bedürfnisse konzentriert und fördere kreatives Selbstvertrauen im Department Ergotherapie am ZHAW, wo wir uns unteranderem auch mit der Integration von KI befassen. Angesichts ihrer Neuartigkeit ist es wichtig zu erforschen, wie KI am besten genutzt werden kann, wobei es in erster Linie als Werkzeug zur Bearbeitung und Überarbeitung oder Ideengenerierung und nicht als inhärente Intelligenz angesehen werden sollte.

Ausserdem bin ich im letzten Sommer Mutter geworden. Ich beschäftige mich auch in diesem Zusammenhang mit Bildschirmen, erkenne ihren Nutzen an und hinterfrage gleichzeitig ihre weiterreichenden Auswirkungen. Es stellen sich zahlreiche unbeantwortete Fragen zur Entwicklung der Technologie und zur Machtdynamik, die vor allem von grossen Unternehmen diktiert wird, was beunruhigend ist. Wer hat letztendlich die Macht, wer entscheidet?

«I worked out today and now I’m posing with my art piece» (2022) von Johanna Müller, ausgestellt im HEK. Bild: Moritz Schermbach

IM: Wie ist es bezüglich Social Media?

JM: Es ist ein Gleichgewicht zwischen Utopie und Dystopie, mit einem Spektrum von Erfahrungen dazwischen. Es ist wichtig, seinen eigenen Ansatz zu finden. Wenn ich zum Beispiel mit meinem Sohn spazieren gehe, dachte ich zunächst, das sei die perfekte Zeit für Podcasts. Aber dann habe ich gemerkt, dass ich lieber in die Umgebung eintauche und mich nicht ablenken lasse. Wir haben uns an ständige Reize gewöhnt und sind oft auf Kopfhörer angewiesen. Die Technologie zur Geräuschunterdrückung hat sich für mich während der Zugfahrt als sehr nützlich erwiesen, da sie die notwendige Isolation ermöglicht. Es ist jedoch wichtig, im richtigen Moment Prioritäten zu setzen, anstatt zu versuchen, alles gleichzeitig zu kontrollieren. Ich glaube nicht, dass man starre Regeln für die tägliche Bildschirmzeit aufstellen muss. Wenn ich Lust habe, zwei Stunden lang in einem «Rabbit Hole» zu versinken, warum nicht? Ich denke, dass diese Lockerheit und das Experimentieren mit der Nutzung dieser Werkzeuge fehlt. Es geht immer nur um Optimierung. Viele dieser Dinge stammen von der Kardashian-Familie. Der Reality-Show-Ansatz für Social Media, das Selfie, das Duckface und das Geldverdienen mit dem eigenen Gesicht. Ich habe mir eine ‘Haus-Tour’ von ihr angesehen und alles ist beige, sogar die Kinderzimmer. Sie sagt, dass die Welt so chaotisch ist, dass sie zu Hause nur beige braucht, um sich beruhigen zu können. Es ist wichtig, diese Einflüsse anzuerkennen und ihre Auswirkungen auf unser Leben und Verhalten zu bedenken.

IM: Es gibt einen guten Begriff dafür, der kürzlich aufgetaucht ist – «Greige». Die Kombination aus Grau und Beige. Es gibt mehrere Video-Essays, die sich mit der «Greige-Agenda» beschäftigen. Wohin entwickelt sich deiner Meinung nach die Internetkultur und was erhoffst du dir für die Zukunft?

JM: Wenn wir die sozialen Medien wie einen Spiegel unserer Gesellschaft betrachten, könnten sie eine Chance sein, diese Dynamik zu überdenken und neu zu gestalten. Das Internet, das in den 90er Jahren aufkam, war ein Hoffnungsträger für feministische Gruppen und unabhängige Stimmen. Doch diese Träume wurden sehr schnell zerschlagen, als man feststellte, dass das Internet genauso rassistisch, sexistisch usw. ist wie die reale Welt, und natürlich durch das Wachstum der grossen Unternehmen, die den Profit in unserer neoliberalen Gesellschaft in den Vordergrund stellen. Mark Zuckerberg ist mehr an Macht interessiert als an echten Kontakten und er tut sehr seltsame Dinge. So wie es jetzt ist, dient das Internet als grosses Einkaufszentrum. Ich denke, wir müssen davon wieder wegkommen. Dieses Werbemodell ist der Untergang für gute Inhalte, weil sie immer vom Kaufen überschattet werden. Wir sind totale Dopamin-Junkies. Der Weg, auf dem wir uns befinden, ist unhaltbar, und eine Revolution, in welcher Form auch immer, scheint zunehmend notwendig.

IM: Glaubst du, dass das dezentralisierte Web-Lösungen für dieses Problem ist?

JM: Der Austausch von Wissen, die Zusammenarbeit und der Aufbau einer Gemeinschaft sind von entscheidender Bedeutung. Viele Stimmen in der Kunst setzen sich für diese Werte ein. Die Zusammenarbeit als gemeinschaftsbasierte Organisation ist unerlässlich; Individualismus bedeutet unseren Untergang, und er ist ineffektiv, sogar im Familienleben. Ich glaube, dass der Verlust des Individualismus den Menschen Angst macht. Die Angst scheint heute allgegenwärtig zu sein und den Erfolg rechter Parteien zu befeuern. Viele teilen ähnliche Gedanken, deshalb müssen wir uns besser vernetzen, denn ich glaube, dass Gegenkulturen eine wichtige Rolle bei diesem Wandel spielen. Die Menschen erkennen, dass es nicht nachhaltig ist, so weiterzumachen wie bisher; das Menschliche steht auf dem Spiel.

Ausstellungsansicht von «UBERMORGEN, Johanna Müller & Giulia Essyad. Schweizer Medienkunst – Pax Art Awards 2023» während der Museumsnacht. Bild: Moritz Schermbach

IM: Was denkst du, wie die Pax Art Awards die Schweizer Medienkunst unterstützt und beeinflusst?

JM: Der Gewinn dieses Preises ist eine grosse Ehre. Erstens ist es ein grosszügiges Stipendium, das die Schaffung neuer Werke für die Öffentlichkeit unterstützt. Es ist wichtig für mich, meine Ideen in Ausstellungsräume zu bringen. Eine solche Auszeichnung zu erhalten, ist auch eine unglaubliche Bestätigung, denn sie ist eine Anerkennung der bisherigen Leistungen. Als Winterthurer Künstlerin ist es für mich besonders spannend, in einer neuen Stadt wie Basel in der Deutschschweiz auszustellen, weil ich so mein eigenes Netzwerk in der Region erweitern kann.

IM: Was steht als nächstes an? Gibt es etwas Neues an dem du gerade arbeitest?

JM: Ich beschäftige mich gerade wieder mit dem Filmemachen, und zwar in Form eines Kurzfilms, an dem ich aktuell recherchiere. Es dreht sich um eine öffentliche Treppe und ist eine fiktive Erzählung. Ausserdem habe ich einen Förderantrag für einen gemeinsamen Workshop mit offener Ausschreibung zum Thema Zugehörigkeit eingereicht. Mein Plan ist es, auf spielerische Weise Geschichten aus dem wirklichen Leben zu sammeln und sie dann in meinen Drehbuchschreibprozess einfliessen zu lassen. Die Dreharbeiten sind für das nächste Jahr geplant, wobei der Drehort noch nicht feststeht. Italien mit seinen vielen schönen grossen Treppen ist am wahrscheinlichsten, zumal wir einen italienischen Produzenten an Bord haben. Und dann ist da natürlich noch das italienische Essen…

Vielen Dank an Johanna Müller, dass sie sich die Zeit genommen hat, mit HEK über ihre Praxis und ihre Überlegungen zum grossen, weiten Netz des Internets zu erzählen. Ihre Arbeit ist im HEK in der Ausstellung «UBERMORGEN, Johanna Müller & Giulia Essyad. Schweizer Medienkunst – Pax Art Awards 2023» bis Sonntag, 10. März 2024 zu sehen. Mehr Informationen zur Ausstellung gibt es hier.