“Während Niki de Saint Phalle freudig das Leben feierte, wollte ich freudig den Tod feiern”
Susanna Petrin: Claudia Hart, Sie sind eine amerikanischen Künstlerin in New York City, wie hat Basel Sie gefunden?
Claudia Hart: HEK-Direktorin Sabine Himmelsbach rief mich aus heiterem Himmel an und sagte: “Du denkst vielleicht, dass das verrückt ist, weil wir nicht viel Zeit haben, aber ich möchte dich dazu einladen, ein virtuelles Kunstwerk für diese App, die ich gemeinsam mit Basel Tourismus kuratiere, zu programmieren.” Ich glaube, dass Sabine mich sehr bewusst ausgesucht hat, denn ich gelte als eine Pionierin digitaler Kunst. Man kennt mich in diesen Kreisen, gleichzeitig bin ich lange aus dem Narrativ der digitalen Kunstgeschichte an den Rand gedrängt worden, da ich schon älter und eine Frau bin. Mein Eindruck ist, dass Sabine, die selbst feministische Positionen vertritt, mich verstärkt in die zeitgenössische Diskussion einbringen möchte.
SP: Und wie haben Sie sich in Basel zurechtgefunden, wie haben Sie hier den besten Ort für Ihre virtuelle Skulptur ausgesucht?
CH: Sabine und Basel Tourismus haben mir online eine Tour durch Basel gegeben. Sie haben mir gezeigt, wo andere Künstlerinnen und Künstler bereits ihre Werke platziert haben, und wo es weitere mögliche Standorte gibt. Nach einer Weile kamen wir beim Tinguely-Brunnen vorbei, und ich dachte nur: “Oh mein Gott, klar, dieser Brunnen muss es sein!” Ich glaube, sie waren etwas schockiert, weil die anderen Tech-Künstler nicht an diesem fast klischeehaften, historischen Zentrum interessiert gewesen waren. Aber ich habe vor vielen Jahren ein Stipendium am American Center in Paris absolviert. Von dessen Räumlichkeiten im Centre Pompidou blickte ich täglich auf den ikonischen Strawinsky Brunnen von Tinguely und Niki de Saint Phalle. Natürlich wusste ich alles über Niki, dass sie diese pop-feministische Künstlerin war, die neue Technologien mit ihren fantastischen, eigenen Mythen feierte. Ich stellte fest, dass es hier in Basel auch einen Tinguely-Brunnen gibt, aber ohne Niki, also könnte ich sie vertreten – nicht als Niki, als mich selbst, jedoch in ihrem Sinne.
SP: Wie haben Sie Niki de Saint Phalle für sich neu interpretiert?
CH: Niki benutzte Fiberglas für ihre Frauenfiguren, das war damals eine neue Technologie; ich benutzte virtuelle Realität und 3D-Software für meine eigene Version mythischer Frauen. Es gab zu Nikis Zeit viel Hoffnung auf die Neuerfindung der Welt, auf neue Technologien, die alle Probleme der Welt lösen würden. Ich wiederum lebe in einer Zeit, in der ich verstehe, dass diese Probleme nicht gelöst sind. Ich bin zwiespältig gegenüber neuen Technologien, den sozialen Medien, Grosskonzernen wie Google oder Apple. Während Niki also freudig das Leben feierte, wollte ich freudig den Tod feiern. Meine Figuren basieren auf jenen altgriechischen Frauenfiguren, die wie Säulen auf ihren Köpfen ganze Tempel stützen – sie heissen Karyatiden und sind etwa auf der Akropolis zu sehen. Bei mir stehen sechs Karyatiden im Tinguely-Brunnen und halten Vasen in die Höhe. Daraus wachsen Blumen, die alsbald verwelken. Doch sie regenerieren sich schnell wieder, wachsen nach und sterben erneut, wieder und wieder. Sie sind knallbunt, sie sind spielerisch. Ich sehe sie als Parallele zu Nikis Figuren im Strawinsky-Brunnen, aber sie sind ganz ich. Ich kopiere Niki nicht, ich mache einfach Claudia im Sinne von Niki.
SP: Und dazu kommt die Musik, eher eine Stimme, was hören wir?
CH: Das ist Maya, die Tochter des Komponisten Edmund Campion, Leiter des Zentrums für Neue Musik und Audiotechnologie an der Universität von Kalifornien, Berkeley. Als Maya noch ein Kind war, baten wir sie, eine Uhr zu sein und die Zeit zu zählen. Also macht sie Musik mit ihrer Stimme. In meinem Tonschnitt zählt sie nun immer wieder bis sieben, parallel zum Wachsen und Verwelken der Blumen. Auch hier geht es um das Vergehen der Zeit, um Vergänglichkeit und Tod.
SP: Sie sind eine Frau und nicht mehr so jung…
CH: Ich kann mit Stolz sagen, dass ich 69 Jahre alt bin.
SP: Und das ist ziemlich alt für eine Künstlerin, die mit den neusten, technisch anspruchsvollen Computerprogrammen arbeitet. Macht es das leichter, weil man etwas Spezielles ist in der Kunstwelt, oder, wie schon angetönt, doch eher schwieriger, anerkannt zu werden?
CH: Als ich Mitte der 90er Jahre anfing, mit virtueller Realität zu arbeiten, war dieser Bereich komplett von Männern dominiert: 3D-Programme wurden hauptsächlich für militärische Zwecke und für Shooter-Spiele verwendet. Ein Mann gewann auf der Ars Electronica einen Preis für das Bild einer halbnackten Frau, die mit einem Motorrad verschmolzen war, dessen Auspuffrohr aus ihrem Geschlechtsteil ragte. Das war unglaublich! Zusammen mit meiner Co-Autorin Claudia Herbst habe ich diesen pornografischen Sexismus, ja diese Frauenfeindlichkeit, in einer akademischen Arbeit kritisiert, die offenbar heute noch gelesen wird. Die Abhandlung mit dem Titel “Virtual Sex” erschien zuerst auf Pornoseiten, was eine Menge Klicks generierte.
SP: Das ist ja ein sehr ironisches Missverständnis.
CH: Ja. Sexismus und Pornographie waren in dieser Branche typisch. Ich unterrichtete damals an der School of the Art Institute in Chicago, wo ich ein Programm namens Experimental 3d ins Leben rief, in dem ich virtuelle Realität im Kontext der Geschichte der Repräsentation lehrte. Als Protestreaktion auf die pornografischen oder militärischen Werke der Männer, programmierte ich langsame, erotische, weibliche Figuren. Da wackelten die Studenten in ihren Sitzen und fühlten sich sehr unwohl. Es gibt leider bis heute viel Sexismus und Altersdiskriminierung in der Innovationskultur. Unbewusst wollen viele jüngere Menschen in dieser auf Neuheit fokussierten Kultur alles Alte auslöschen, inklusive ältere Menschen.
SP: Aber können Sie nicht auch davon profitieren, als ältere Künstlerin eine Rarität in dieser digitalen Kunstwelt zu sein?
CH: Ich bin hier, hier bin ich. Sie interviewen mich. Sabine hat mir diesen Auftritt verschafft, was wiederum andere Leute auf mich aufmerksam gemacht hat, weil das HEK so hoch angesehen ist. Ich bin auch Anika Meier, einer Kuratorin und Autorin, die im Beirat des HEK sitzt, zu Dank für ihre Unterstützung verpflichtet. Derzeit habe ich mehrere interessante Aufträge: Für die kommende Armory Show übermale ich meine eigenen Bilder mit digitalen Blumen im Stil von Künstlerinnen, die an der ersten Armory Ausstellung von 1913 in New York teilgenommen haben, jedoch von der Kunstgeschichte überschrieben worden sind. Für die Microscope Gallery in New York kuratiere ich eine Ausstellung über andere vergessene Künstlerinnen, eine erste Generation von Pionierinnen, die auf ähnliche Weise ausgelöscht wurden. Mit zunehmendem Alter setze ich mich nicht nur für andere Frauen ein, sondern ich bin auch eine Kämpferin für ältere digitale Künstler geworden. Ich arbeite im Widerstand gegen menschliche Obsolenz, die leider ein zentrales Element der Tech-Kultur ist.
Fussnoten/Links:
Die App ARTour ist Gratis downloadbar über den App-Store.
https://www.researchgate.net/publication/228477156_Virtual_Sex_The_Female_Body_in_Digital_Art