Rückblick: Ferienpass – eine Woche Minecraft
Intro
In meiner Arbeit als Sozialpädagoge treffe ich immer wieder Kinder an mit einem besonderen Interesse für Minecraft – sei es in Jugendhäusern oder Schulen. Oft sind das Kinder, die ihre Mühe haben, sich in die Klassengemeinschaft einzufügen, die andere Interessen als die meisten haben. Man kann auch ein wenig salopp sagen: die schon früh einen Hang zum «nerdig» sein entwickeln. Also wuchs die Idee, Workshops zu organisieren, einen Begegnungsort für eben diese (und auch andere) Kids. Einen Ort, um ein Gefühl dafür zu entwickeln, wie sich eine gute und gesunde Gemeinschaft anfühlt. Zudem dämmerte mir, dass Minecraft nicht nur ein Nerd-Paradies, sondern überhaupt ein Experimentierfeld sein könnte: zur Demokratiebildung, zur Förderung von Medienkompetenz oder zu urbanistischen Fragen. Eine Art offenes Zukunftslaboratorium also.
Erkunden
Für eine Woche fanden sich also 14 Kinder aus ganz Baselland im HEK zusammen, um eine Woche lang zusammen Minecraft zu spielen. Startpunkt: eine leere Welt, ein unbeschriebenes Blatt. Das Genre ist klar ein Open World Game: es wird erkundet und gestaltet, ohne direktes Ziel, ohne vorgegebenes Spiel-Narrativ. Man muss sich seine Aufgaben und Projekte also selbst suchen. Erstes Vorhaben: einen schönen Platz suchen für ein Rathaus. Als wir den «Cherry Blossom Wald» fanden waren sich rasch alle einig, dass wir uns dort installieren wollten. Schnell teilten wir die Aufgaben auf, um das Rathaus zu bauen, dazu ein kleines Weizenfeld, um Brot zu backen und Tiere anzulocken. Und tatsächlich stand am Ende des ersten Tages ein richtiges, noch etwas klobiges Rathaus und wir hatten bereits Kühe, Schafe und Hühner eingefangen. Und es sammelten sich Vorräte: im Keller des Rathauses stapelten sich bald Kisten voll mit Essen, Kohle, Holz usw. Nicht individuell wurde da gehortet, sondern für die Allgemeinheit. Ein erster politischer Entscheid war gefallen, ganz nebenbei.
Demokratiebildung
Am zweiten Tag definierten wir die Zuständigkeiten: Wer kümmert sich um Holz, wer um den Weizen und die Tiere, wer hat Ideen für weitere Bauprojekte? Da uns niemand Regeln vorschrieb, mussten wir auch diese selbst aufstellen, mit dem Resultat, dass wir ständig Diskussionen führten, um Konsens zu finden. Und rasch merkt man: Wenn man nicht um die Allgemeinheit kümmert bzw. seine Zuständigkeiten sausen lässt, fehlt es an Material und Projekte stehen plötzlich still. So lernen die Kinder, dass sie nicht immer den Lehrer fragen müssen, wenn sie z.B. nicht wissen, wo das Holz hinmuss, sondern diejenigen unter ihnen, die fürs Bauen oder das Holz im Lager zuständig sind.
Während einige also für die Gemeinschaft arbeiteten, bauten andere in den Minen fleissig Diamanten und andere wertvolle Dinge ab. Und plötzlich stand da ein Stand und ein Kind wollte seine Schätze verkaufen. Der Tag war fast vorbei und ich wusste: Bevor der Kapitalismus so mir nichts dir nichts in diese unsere Welt Einzug nimmt, wird das noch diskutiert werden müssen. Und zwar als erstes am nächsten Tag.
Erkunden und verbinden
Frage also in die Runde gestellt: Brauchen wir eine Marktwirtschaft oder verfahren wir nach dem Prinzip der Grosszügigkeit mit einer gemeinschaftlichen Wirtschaft? Das Veto kam einstimmig: der Laden wurde wieder abgebaut. Inzwischen hatten allmählich die meisten Kinder ein Haus gebaut oder sich bei jemand angeschlossen und dort ausgebaut. Auch Ressourcen hatten wir genügend angesammelt. Ruhig oder langweilig wurde es aber nicht – ständig passierten kleinere Unfälle, jemand baute etwas ab, was jemand anderes noch brauchen wollte und wir mussten wieder diskutieren und Zuständigkeiten und Aufgaben, die am ersten Tag nützlich waren, nochmals revidieren. Neben dem Rathaus entstand ein Hafen, das Rathaus wurde um einen Turm erweitert und immer wieder entdeckte ich ein Detail, das das Leben in dieser Klötzchenwelt einfacher oder schöner machte. Wir befanden uns längst tief im Minecraft-Tunnel, die Zeit raste an uns vorbei, doch am Morgen stand bereits eine weitere grosse Diskussion vor uns. Viele Regeln wurden wieder missachtet und plötzlich fehlten Dinge dort, wo wir eben noch abgemacht hatten, dass wir sie brauchten. Eine Frage drängte sich auf: brauchen wir Ordnungshüter, brauchen wir eine Polizei?
Aufbrechen und Konsens
Wir hatten uns vorgenommen am Morgen des letzten Tages den Enderdrachen zu besiegen. Dafür waren eine Reihe von Vorbereitungen vonnöten: Erfahrungspunkte sammeln, Rüstungen verzaubern, Kürbismasken schnitzen. Eine Aufbruchstimmung machte sich breit, alle halfen einander und waren darum bemüht, den weniger guten Spielern die bestmögliche Rüstung zu organisieren. Die Nervosität bringt auch ein gewisses Chaos mit sich, einige lassen ihr Material irgendwo liegen, andere bedienen sich flugs und wir mussten immer wieder klären, was man brauchen darf und was nicht. Manche Kinder mussten lernen, sich Hilfe zu suchen, anstatt sich einfach ungefragt zu bedienen. Nicht alle Teilnehmenden hatten die gleichen Skills, es gab Minecraft-Anfänger:innen ebenso wie richtige Expert:innen. Doch die Hilfsbereitschaft war immer da und bei der Frage, ob wir eine Polizei bräuchten für etwas mehr Ordnung, war man sich dann doch rasch einig, dass sich Probleme mit Diskussion und Konsensfindung wohl schneller lösen lassen.
Wie ein Lager
Eine Fehlplanung wurde uns am Ende zum Verhängnis. Wir planten lediglich 30 min für das Besiegen des Enderdrachens ein und wollten uns darum als allerletztes kümmern. Leider brauchten wir aber mehr als eine halbe Stunde, um überhaupt zum Portal zu kommen, das zum Enderdrachen führen würde. Immerhin lernten die Kinder so, mit Koordinaten umzugehen und sich im (digitalen) Gelände zu orientieren. Als endlich alle 14 Kinder zum Portal unterwegs waren und mit den Koordinaten navigierten, den Weg markierten usw. musste ich immer wieder an die Pfadi denken. Und wie es so ist im freien Gelände: nicht alle schaffen es rechtzeitig ans Ziel, d.h. zum Enderdrachen und der letzte Tag drohte mit einer ein bisschen schiefen Stimmung zu enden. Doch diese hellte sich schnell wieder auf, als die Eltern kamen und wir ihnen unsere Welt zeigen durften. Stolz durfte jeder zum Laptop mit Beamer-Connection und das selbst erbaute Haus zeigen. Die Geschichten kamen ins Purzeln: wie wir das Rathaus bauten, wie den Hafen. Und ich selber staunte, wer sich alles mit wem zusammengetan hatten, ohne dass ich davon etwas gemerkt hatte. Ich dachte zum Beispiel, die beiden Mädchen interagierten nicht viel mit den restlichen Jungs, doch ich täuschte mich. Da hatten sich doch tatsächlich zwei Jungs bei einem der Mädchen einquartiert und kümmerten sich auch darum, die Inneneinrichtung zu erweitern und zu verschönern. In den Häusern gab es Saunas, Pools mit Babybecken, Stuben, Küchen, Lager, Hühner, Hunde und Katzen. Alle hatten es sich gemütlich gemacht und obschon sich die Kinder zuvor kaum kannten, fühlte sich die Stimmung an, wie in einem Lager. Ein Kind konnte nicht so einfach loslassen: «All das was wir aufgebaut haben – was passiert nun damit?» Ich sage ihm, dass das nicht die letzte Welt ist, die er erschaffen wird.
Outro
Als Sozialpädagoge mit solch einem Game und einer Gruppe zu arbeiten fühlt sich wie normale Arbeit an. Wir üben das Miteinander, eine Gemeinschaft aufzubauen mit Regeln und Werten. Ich kläre Missverständnisse und strukturiere Aufgaben, ich gebe eine Richtung vor, wenn es gebraucht wird. Methodisch ist es ganz klar im Projektunterricht zu verordnen. Doch es geht weit darüber hinaus, wir experimentieren mit unüblichen Gemeinschaftsformen und reflektieren darüber, vergleichen unsere kleine Utopie immer wieder mit der Welt, in der wir leben. Diese kleine digitale Welt ist ein geschützter, experimentierfreudiger und ergebnisoffener Raum, in dem Demokratiebildung und Zukunftsbildung nicht nur gelernt, sondern als Gruppe erfahren werden können. Die Spielsimulation ermöglicht es ein Gespür für die Komplexität von demokratischen Prozessen und Nachhaltigkeitsproblemen zu entwickeln – und auch dafür, dass trotzdem Lösungen möglich sind. So fördert diese Spielsituation Handlungs- und Zukunftsfähigkeit. Das ist umso wichtiger als die Aufgaben, die sich uns als Gesellschaft stellen, leicht fatalistisch und ohnmächtig machen können. Es passiert leider nicht selten, dass gerade die leisen (und womöglich leistungsstärkeren) Kinder in den Schulen untergehen, weil die lauten mehr Aufmerksamkeit erhalten. Ich habe oft beobachtet, dass der Leidensdruck bei solchen Kindern gross sein kann, im schlimmsten Fall werden sie gemobbt und bekommen kaum (oder viel zu spät) Hilfe. Das Tolle an diesem digitalen Raum: Er vereinfacht vieles und vor allem funktioniert er als geschützter Raum, um Rollen zu testen, um Gemeinschaft zu erfahren. Viele Gamingbiografien beschreiben genau das: Im Spiel kann ich auch mal der Leader einer Gruppe von 40 Personen sein und dabei meine hervorragenden Managementqualitäten aufzeigen, die sonst häufig untergehen.
Eine Woche nach dem Lager logge ich mich noch ein letztes Mal in unsere kleine Welt ein. Es ist ruhig, keine Kinder, die um das Rathaus herumrennen, keine Tiere mehr im Gehege. Ich platziere ein Schild vor dem Rathaus mit den Informationen zu einem offenen Treffpunkt, den ich organisiere: Jeden Mittwochnachmittag treffen wir uns, um eine neue Welt zu beginnen. Die Regeln? Werden wir noch finden müssen.
Ein Gastbeitrag von Mario Robles, Sozialpädagoge, und Roland Fischer, Wissenschaftsjournalist und Kurator. Mario Robles organisiert einen offenen Minecraftreff. Mehr Infos unter https://openworlds.community/
Der Workshop fand im Rahmen des Projektes «Let’s play – Gestaltung diverser und kollaborativer digitaler Welten» mit Unterstützung von Migros Kulturprozent und der Binding Stiftung statt.