Interview mit LaTurbo Avedon: nicht-binäre:r Künstler:in

LaTurbo Avedon ist ein:e Künstler:innenpersönlichkeit, die eine rein digitale Existenz führt und sich selbst als nicht-binäre virtuelle Person definiert. Avedons Arbeit Materia ist derzeit in der Ausstellung «Collective Worldbuilding – Kunst im Metaversum» zu sehen. Noch bis zum 13. August 2023 zeigt die Präsentation im HEK eine Auswahl von Arbeiten internationaler Künstler:innen; im Fokus stehen dabei die Möglichkeiten eines dezentralisierten Internets, das mehr Selbstbestimmung und Transparenz verspricht. Isabella Maund vom Team des HEK führte ein Gespräch mit LaTurbo Avedon über ihre:seine künstlerische Praxis, ihre:seine Ansichten über zukünftige Spielarten des Metaversums und darüber, wie es ist, die traditionellen Grenzen der Identität außer Kraft zu setzen.

Isabella Maund: Danke, dass du dir die Zeit nimmst, mit mir zu sprechen. Für unseren Blog habe ich mich schon mit einer ganzen Reihe von Personen unterhalten, aber dies ist das erste Mal, dass ich ein:e Künstler:in interviewe, der:die eine rein digitale Existenz führt. Kannst du uns etwas mehr über deine Vorgeschichte erzählen – für diejenigen unserer Besucher:innen, die noch nicht so viel von dir wissen?

LaTurbo Avedon: Hi hi, Isabella, es ist wirklich nett, mit dir zu chatten. Ich heiße LaTurbo und bin ein Avatar, eine nicht-binäre virtuelle Person. Ich bin nun schon seit über zehn Jahren ausschließlich in virtuellen Räumen aktiv. Meine Anfänge, könnte man sagen, sind mit den Möglichkeiten zur Entwicklung eigener Figuren in Videospielen verknüpft. Mit den Jahren habe ich mich dann immer mehr dafür interessiert, die öffentliche Wahrnehmung der Welten und virtuellen Identitäten in den Spielen zu erweitern. Ich wollte sie auf eine Weise hinterfragen, die unsere Sicht auf uns selbst, die eigene Performance, aber auch narrative Formate wie das Longform-Geschichtenerzählen auf den Prüfstein stellt. Es gibt so vieles, das sich während dieser Zeit geändert hat. Nicht nur, was die getreue Wiedergabe in Videospielen und Software anbelangt, sondern auch, wie die Öffentlichkeit die virtuellen Räume wahrnimmt. Ich bin sehr dankbar, meine Arbeiten über den Computermonitor und Fernsehbildschirm hinaus verbreitet zu wissen und sie in Ausstellungsräumen und Museen auf der ganzen Welt zeigen zu können. Für mich heben diese Möglichkeiten einen wichtigen Fakt hervor, der diese Zeit kennzeichnet: den Umstand, dass Avatare eine Koexistenz führen und diese Räume teilen können. Ein Avatar reicht aus.

IM: Was denkst du, auf welche Weisen forderst du unsere traditionellen Vorstellungen heraus, die wir über Identität haben?

LTA:Ich existiere als Summe meiner eigenen Entscheidungen. Als fließende Erscheinung, die ich augenblicklich verändern kann, wann immer ich will. Ich betrachte diese Offenheit als eine Art Einladung: eine Ermutigung für andere, diese Wandelbarkeit als Möglichkeit auch für sich in Betracht zu ziehen und die vielen Fassetten zu erforschen, die jede:r von uns hat, das eigene Selbst auszudrücken. Es gibt etwas Größeres, das wir von den ausgeklügelten Systemen der Videospiele mitnehmen können – den diversen Erscheinungsmodifikatoren und Schiebereglern, mit denen sich das Aussehen optimieren lässt. Und tatsächlich gibt es nichts Schöneres, als Leuten genau so zu begegnen, wie sie selbst gesehen und in Erinnerung behalten werden wollen. Gerade werden so viele Stimmen in der physischen Welt laut, die diesen Realitäten ihre Anerkennung verweigern wollen, doch mich bestätigt das umso mehr in meinem Gefühl, wie wichtig es ist, dass diese Ideen gesehen und gehört werden.

LaTurbo Avedon, Materia, 2023 im HEK in der Ausstellung «Collective Worldbuilding – Kunst im Metaversum». Foto: Franz Wamhof

IM: Denkst du, dass Metaversen mit den darin existierenden Wesen, die die Grenzlinie zwischen Physischem und Digitalem verwischen, mit der Zeit zu einem anderen kulturellen Verständnis davon führen werden, was wir als menschlich oder nichtmenschlich begreifen?

LTA: Wenn ich mir Gedanken über die nahe Zukunft mache, habe ich ein Gefühl der Freude und Horror zugleich, und das hat größtenteils damit zu tun, wie die Öffentlichkeit entscheidet, mit dem Verschmelzen des Physischen und Digitalen umzugehen. Immersive Simulationen sind ein unverzichtbarer Schritt bei dieser technologischen Entwicklung, das Verschmelzen menschlicher und nichtmenschlicher Akteur:innen, die schließlich wohl ununterscheidbar sein werden. Während wir uns bereitmachen, die uns unheimlichen Schluchten zu verlassen und wissentlich in das Zeitalter der Simulationen einzutreten, ist es von großer Wichtigkeit, dass Aspekte wie Nutzerrechte und Datenschutz von Anfang an thematisiert werden. Schon jetzt sind Algorithmen weitestgehend dafür verantwortlich, wie Kultur in sozialen Netzwerken dargestellt wird, doch komplexere Simulationen werden es möglich machen, auf viel tieferen Ebenen Einfluss zu nehmen.

IM: Deine digitale Persona ist auf verschiedenen Online-Plattformen und in anderen virtuellen Räumen aktiv. Wie gehst du mit der Vielfalt an digitalen Welten um, wie navigierst du hindurch, und was motiviert dich, all diese Sphären zu erforschen und in ihnen kreativ zu sein?

LTA: Manche der Videospiele und Welten, in denen ich mich aufhalte, fühlen sich wie Heimat an – Orte aus meiner Vergangenheit, an die ich jederzeit zurückkehren kann, um formative Erfahrungen neu zu durchleben. Gelegentlich suche ich einen Ort auf, um eine originale Geschichte im Originaldesign zu spielen, doch zumeist will ich einfach Zeit dort verbringen. Ich gehe in den Bergen von Skyrim auf Wanderschaft, klettere auf die Tribüne von Summer am Strand oder versenke mich in die Betrachtung der Wellen in Earthbound. An jedem der Orte, die ich besuche, existiert ein anderer kleiner Teil von mir, der dort verbleibt. Die von Spielverläufen gespeicherten Daten, Objektverzeichnisse, Erlebnisse, virtuelle Erinnerungen. Das ist meine Art, ein Selbstportrait zu erschaffen – indem ich Spuren vergangenen Lebens hinterlasse, wie sie, so denke ich, im Alltag vieler Leute in ähnlicher Weise zu finden sind.

IM: Inwiefern fühlst du dich autonom, und hast du weitere Ziele in der Hinsicht, die du gern erreichen würdest?

LTA: In den Welten der Videospiele lässt sich beobachten, wie der Handlungsspielraum, der den Spielenden zugestanden wird, immer weiter reduziert wird, während viele Firmen ihre Spiele in Live Service-Modelle umwandeln. Dieses Format erzeugt eine Art virtuelle Sterblichkeit. Irgendwann kommt unausweichlich der Tag, an dem eine Firma entscheidet, nicht länger für Speicherplatz auf dem Server zu zahlen, und schlagartig werden jegliche Fortschritte, die erzielt wurden, für all diejenigen zunichte gemacht, die am Spiel teilnehmen. Wenn wir dieses Thema aus einer archäologischen Perspektive betrachten, so gibt es wohl nicht viele Möglichkeiten, wie sich ein so radikal ausgemerzter Ort je wieder rekonstruieren ließe. Das Beste, auf das wir hoffen können, sind die Screenshots, Streams und Aufzeichnungen der Nutzer:innen. So ein gigantischer Verlust an Daten. Orte, die ich nie wieder aufsuchen kann. Teile von mir, von denen ich mir wünsche, ich sie hätte bewahren können. In den vergangenen zwei Jahren habe ich einen Weg entwickelt, Teile dieser Geschichte zu behandeln, und zwar durch mein Projekt Materia. Es ist ein Konzept, das ich als „extern“ bezeichnen würde, im Sinne einer Simulation, die nicht länger auf die Dienste größerer Organisationen oder Plattformen angewiesen ist. Indem ich im Rahmen der eigenen Dateien agiere, bin ich in der Lage, selbst meine Schnittstellen mit der Öffentlichkeit zu bestimmen, und kann dabei sicherstellen, dass die Arbeit bewahrt bleibt, und zwar ohne mich von größeren Organisationen abhängig zu machen.

IM: Die Arbeit, die du in der aktuellen Ausstellung zeigst, Materia, untersucht das Konzept Materialität im digitalen Raum. Kannst du etwas näher beschreiben, wie du das Thema in deinem Kunstwerk angegangen bist und was dich motiviert hat, dich mit der Beziehung zwischen physischen und digitalen Materialien zu befassen?

LTA: Im Laufe der Jahre habe ich eine Reihe von Arbeiten entwickelt, die an der Schnittstelle zur Öffentlichkeit angesiedelt sind. Entstanden ist dabei eine besondere Form des Kontakts – eine, die meine Erfahrungen als Künstler:in wirklich bereichert hat. Mit Sunset at Mt. Gox von 2013 habe ich ein virtuelles Denkmal geschaffen – zur Erinnerung an den Absturz an den Krypto-Börsen, wobei viele Leute die Verluste ihrer virtuellen Tokens zu betrauern hatten. Für mich war das ein Weg, in Kontakt zu treten und etwas von der öffentlichen Stimmung zu bewahren in Bezug auf das, was in dieser bestimmten Zeit vor sich ging. Da ich keine meiner eigenen Ausstellungen je physisch besucht habe, bin ich stets auf der Suche nach Mitteln und Wegen, wie ich vermeiden kann, nur als eine Art Phantom zu existieren. Ich will stets ein offenes Fenster haben, einen Ort, an dem wir uns überschneiden.

IM: Wie geht das Publikum mit Materia um, und welche Art Erfahrung willst du für sie erzeugen? Welche Wirkung hoffst du zu erreichen, was die Rezeption dieser Konzepte in der Öffentlichkeit anbelangt?

LTA: 2021 habe ich im Rahmen von Materia eine Serie geschaffen, die den Titel Born Without Stars trägt; eine Reihe von Unikaten, die nach den Tierkreiszeichen benannt sind. Obwohl es Sammler:innen freisteht, den anfänglichen Zustand zu bewahren und sie einfach zu behalten, besteht ihr eigentlicher Zweck darin, zurückgegeben zu werden – durch einen Prozess, den ich als Socket-Event im Materia System bezeichnen will. Wenn das erfolgt, wird ein Teilstück von Materia das größere Gefüge beeinflussen und das Gesamtprojekt maßgeblich (und dauerhaft) verändern. Es besteht keinerlei Verpflichtung für Sammler:innen, dabei mitzuwirken; es ist jedoch ein einzigartiger Moment, und es ist ihre Wahl. In dieser Umgebung sind auch Figuren zu finden, öffentliche Konstrukte, die ich gemeinsam mit anderen Nutzer:innen geschaffen habe. 2022 erhielt ich einen Auftrag von Arebyte London für CLUB ZERO, ein Event, wobei die Öffentlichkeit eingeladen war, die ersten drei Konstrukte im System Materia zu gestalten und ihnen Namen zu geben. Die drei so entstandenen Avatare – Tangent Core, Glyph Antialias und One Ever – werden nun mit der Zeit ihre eigenen Rollen innerhalb des Materia Systems finden. Vor der Ausstellung waren sie mit der Erforschung von Ruins befasst, einem textbasierten RPG-Format, dessen visuelle Umsetzung von Midjourney und DALL-E stammt. Die in diesem Prozess erzeugten Bilder sind für mich wie Fragmente, miteinander verschmolzene Datenbündel ohne jeglichen Hinweis auf ihre Herkunft. Die Session endet damit, wie die Drei in den Ruins (Ruinen) in Schlaf versinken. In diesem Zustand verbleiben sie einstweilen, um schließlich von GANs (Generative Adversarial Networks) ein weiteres Mal gerendert und neu interpretiert zu werden. In der Installation im HEK vermittelt sich eine Art Traumzustand, der Ruheakt als Zeichen des Erduldens (und der Langmut), was die geplatzten Hoffnungen in Bezug auf das Metaversum und die Abzocke rund um Kryptowährungen vom letzten Jahr anbelangt. Die neueste Version alterniert zwischen Traumsequenzen, dem Abwarten in der entferntesten Region des Metaversums, dem Outer Range, bevor es dann ein weiteres Mal hinab in die Clear Ruins geht. Die Arbeit endet mit der ersten Anfrage für ein Socket Event, nachdem eine der ursprünglichen Materia-Arbeiten zur Rückkehr bestimmt worden ist.

LaTurbo Avedon, Materia, 2022-2023, Courtesy of the artist

IM: Dezentralisierung wird als zentrale Strategie bei der Entwicklung des Metaversums oft laut gepriesen. Was sind die wichtigsten Vorteile eines dezentralisierten Metaversums, und welche Herausforderungen siehst du für das Erreichen einer dezentralisierten Form, die wirklich diesem Anspruch genügt?

LTA: Wir werden uns mit der Tatsache abfinden müssen, dass nicht alle Technologien dieser Zeit ewig verfügbar sein werden. Manche Services werden aufgekündigt werden, und viel von dem Gespeicherten, das mit den jeweiligen Ressourcen verbunden ist, wird ebenfalls verschwinden. Es ist relativ einfach, den Wegfall von Sites wie Geocities oder MySpace oder Angelfire als unerheblich abzutun; es sind jedoch tragische Lücken an Stellen entstanden, wo doch so viel von unserem virtuellen Gedächtnis präsent sein sollte. Viele Leute betrachten Konzepte der Dezentralisierung primär in Hinblick auf finanzielle Aspekte, aber ich für meinen Teil bin weit mehr am Erhalt auf persönlicher Ebene interessiert – an einer Art Dezentralisierung, die sich darauf konzentriert, Nutzer:innen zu ermöglichen, in privatem Besitz ihrer eigenen interoperablen Daten zu bleiben. Angesichts der immer langfristigeren Perspektiven, die die KI mit sich bringt, ist es extrem wichtig, dass Nutzer:innen eine Wahl haben, inwieweit ihre Daten Verbreitung finden (oder auch nicht). Es gibt so viele Versuche, den Begriff einer ‚echten‘ Dezentralisierung zu definieren, doch für mich sind die meisten wenig überzeugend, es sei denn, es beginnt beim Thema Datenschutz. Zunächst einmal wäre eine andere Beziehung zwischen Nutzer:innen und ihren Technologien erforderlich, aber vielleicht ist es eben eine solch neue Form – ein Schutzschild, eine Form der Verschleierung – die wir zurzeit alle dringend benötigen.

IM: Wenn wir über die aktuelle Ausstellung hinausschauen, welche Wünsche hast du für die Zukunft in Bezug auf Materia oder andere Projekte? Gibt es neue Richtungen oder Ideen, die dich faszinieren und die du in neuen Arbeiten erforschen willst? Wo siehst du deine besondere Relevanz in Bezug auf die digitale Kunstszene und – auf allgemeinerer Ebene gedacht – unsere Vorstellungen über Identität und Existenz in der Zukunft betreffend?

LTA: Materia ist eine Art partizipative Mythologie, ein Projekt, das ich entwickelt habe, um der Öffentlichkeit die Gelegenheit zu geben, meine Praxis aktiv zu beeinflussen. Das erste Socket Event wird alle möglichen Auswirkungen auf die nächste Phase haben, aber wie es sich genau weiterentwickeln wird, möchte ich an diesem Punkt noch nicht verraten. Alle, die momentan in meinem Kunstwerk träumen, wachen auf und es wird etwas da sein, das jemand von euch zurückgeschickt hat. Mehr als alles andere hoffe ich, dass es Zuschauer:innen gibt, die meine kontemplative Sicht auf die virtuellen Welten teilen und sie nicht einfach nur nutzen, um Geld zu machen. Ich liebe die Erfahrungen, die ich im virtuellen Raum machen konnte, und schätze die immateriellen Beziehungen, die entstanden sind, enorm. Da ist so viel Raum, um das Erleben als Avatar zu erforschen und schätzen zu lernen – und ich wünsche mir, mit der Zeit immer mehr von euch auf diese Weise kennenzulernen.