Gastbeitrag: Die Kommodifizierung von Ignoranz von David Garcia

David Garcia, Fake News, Medienkultur A-Z, 2022, HEK (Haus der Elektronischen Künste), Basel
Auszüge aus einem Vortrag von David Garcia im HEK vom 7. April 2022 im Rahmen von Medienkultur A-Z: Fake News.

Die Ausstellung «How Much of This is Fiction» am HEK im Jahr 2017 stellte Künstler:innen als Trickbetrüger:innen vor, die Taktiken der Simulation, Täuschung und Betrugs für nur dem Namen nach progressive Zwecke einsetzen. Ein Künstler, Paolo Cirio, widersprach jedoch der Prämisse der Ausstellung und argumentierte, dass er das genaue Gegenteil von Fiktion vertrete, indem er stattdessen Fakten, Daten, Beweise und vor allem die «Wahrheitsfindung» in den Vordergrund stelle.

Cirio führte den Begriff «Evidentiary Realism» (Evidenzrealismus) ein, um auf die Entstehung einer breiteren realistischen Bewegung des 21. Jahrhunderts hinzuweisen. Dieser Ansatz wurde von Matthew Fuller und Eyal Weisman unter der Überschrift «Investigative Aesthetics» (Investigative Ästhetik) in einem gleichnamigen Buch weiterentwickelt, in dem die Autoren Forensic Architecture und andere als eine «epistemische» Bewegung vorstellen, die sich gegen die anti-epistemischen (ihr Begriff) Bedingungen richtet, die den Aufstieg reaktionärer Populisten wie Trump, Modi, Bolsonaro, Orban und Putin begünstigten.

In diesem kurzen Beitrag möchte ich mich gegen die Binarität von epistemisch/anti-epistemisch wenden. Jeder Populismus, ob reaktionär oder nicht, ist auch ein épistémè – aber einer, der sich auf die Behauptung stützt, dass er allein den wahren Willen des Volkes «kennt». Dem Scheinkrieg zwischen Technokratie und Populismus liegt also eine ungewollte Komplizenschaft zugrunde. Wer das bezweifelt, braucht sich nur die Aufführung des Wettstreits zwischen Le Pen und Macron anzusehen.

David Garcia, Fake News, Medienkultur A-Z, 2022, HEK (Haus der Elektronischen Künste), Basel

Kaufleute des Zweifels
Thomas Pynchon drückte es in seiner Einleitung zu einem Buch mit frühen Kurzgeschichten gut aus, wo er über die Erkenntnisse nachdenkt, die sich aus der erneuten Lektüre seines Frühwerks ergeben hatten.

“Everybody gets told to write about what they know, the trouble with many of us is that at the earlier stages of life we think we know everything – or to put it more usefully, we are often unaware of the scope and structure of our ignorance. Ignorance is not just a blank space on a person’s mental map. It has contours and coherence, and for all I know rules of operation as well…” [Pynchon T. Slow Learner Brown. 1984.] (Das Problem bei vielen von uns ist, dass wir in den ersten Lebensabschnitten glauben, alles zu wissen – oder besser gesagt, wir sind uns des Umfangs und der Struktur unserer Unwissenheit oft nicht bewusst. Ignoranz ist nicht nur eine leere Stelle auf der mentalen Landkarte eines Menschen. Sie hat Konturen und Kohärenz, und soweit ich weiss, auch Funktionsregeln…)

Der Satz «Wir sind uns des Umfangs und der Struktur unserer Unwissenheit nicht bewusst» ist nach wie vor aktuell und obwohl er von der Psychologie der oder des einzelnen Autor:in sprach, hat die Beobachtung im Laufe der Jahrzehnte in der Kunst und Politik der Post-Truth-Ära eine weitaus grössere Verbreitung gefunden.

 

Von Schrottanleihen zu Schrottdaten
Der Angriff auf das Kapitol war die Nahtoderfahrung der liberalen US-Demokratie, das politische Äquivalent zum Herzinfarkt des Kapitalismus im Jahr 2008, der durch den Zusammenbruch von Lehman Brothers gekennzeichnet war. Doch anstelle von «Schrottanleihen» und «Subprime-Hypotheken» ging es bei den Ereignissen des Jahres 2019 um «Schrott-Fakten» und «Subprime-Daten».

Mehrere Bilder von Trumps versuchtem Staatsstreich zeigten, wie viele seiner glühendsten Anhänger:innen sich gleichzeitig dem mysteriösen Verschwörungskult QAnon angeschlossen hatten. Diese offensichtliche Überschneidung der Unterstützung sowohl für Trump als auch für Q zeigte in Echtzeit, dass die Krise des Wissens und die Krise der Politik wirklich zu ein und derselben Sache geworden sind. Wir mögen (wie Geert Lovink erklärte) den Gipfel der Daten erreicht haben, aber es ist unwahrscheinlich, dass wir den Gipfel der Ignoranz in nächster Zeit erreichen werden.

 

Pinkers Frage
Die Visitenkarte von QAnon war «Pizzagate», eine der abgedrehtesten Verschwörungstheorien der letzten Zeit, laut der Kinder angeblich von einer satanischen Clique von Pädophilen unter der Leitung von Hillary Clinton entführt und rituell missbraucht wurden, die die Kinder im Keller einer bekannten Pizzeria gefangen hielten. Diese absurde Geschichte kursierte im Internet bis zu dem Moment, als ein einsamer Rächer, Edgar Welch, es auf sich nahm, die entführten Kinder zu retten, und dabei feststellte, dass sich nicht nur keine Kinder in dem Keller befanden. Die betreffende Pizzeria hatte nicht einmal einen Keller.

Edgar Welshs unglückliche Rettungsaktion veranlasste den populären Psycholinguisten Stephen Pinker eine nützliche Frage zu stellen: “why, given the popularity of QAnon and Pizzagate, did only one lone avenger, take it upon himself to attempt to rescue the children?” (Warum hat es angesichts der Popularität von QAnon und Pizzagate nur ein einziger Rächer auf sich genommen die Kinder zu retten?)

Der Grund, so schlussfolgert Pinker, war eine Art gewollte Ignoranz. Die anderen Anhänger:innen von Q, so spekuliert Pinker, verstanden stillschweigend, dass die Geschichte eine Fiktion war, schoben ihre Skepsis aber beiseite und liessen sich weiterhin auf eine unterhaltsame Geschichte ein. Pinker vergleicht diese Art von Verschwörung mit einem “multi-player game that gave participants a readymade community and was too enjoyable to fact check”. “Myths like these” he concludes “are a lot more appealing than rationality” («Multiplayer-Spiel, das den Teilnehmern eine fertige Community bot und zu unterhaltsam war, um die Fakten zu überprüfen. Mythen wie diese sind viel anziehender als Rationalität»). Pinkers Beobachtung erinnert an Zizeks aufschlussreiche Ergänzung zu Donald Rumsfelds berühmte Taxonomie (bekanntes Bekanntes, bekanntes Unbekanntes und unbekanntes Unbekanntes), zu der Zizek *unbekanntes Bekanntes* hinzufügt, für jene Wahrheiten, die man kennt, aber nicht zugeben will, dass man sie kennt.

Ausstellungsansicht «How Much of This is Fiction», 2017, HEK (Haus der Elektronischen Künste), Basel, Foto: Franz Wamhof

Ausstellungsansicht «How Much of This is Fiction», 2017, HEK (Haus der Elektronischen Künste), Basel, Foto: Franz Wamhof

Agnotologischer Realismus
Zizeks «unbekanntes Bekanntes» eröffnet neue kuratorische Räume rund um das Konzept der Agnotologie. Dieser Begriff könnte es uns ermöglichen, so zu tun, «als ob» es Werke und Ausstellungen gäbe, die es uns ermöglichen, «den Umfang, die Umrisse und das Ausmass unserer Ignoranz» zu konturieren. Dies wäre in einer Zeit, die für die Herstellung von Ignoranz als wirksames strategisches Mittel besonders anfällig ist, von grossem Wert.

Der Begriff Agnotologie wurde von dem Wissenschaftshistoriker Richard Proctor und dem Sprachforscher Ian Boal geprägt. Die Wortneuschöpfung kombiniert das griechische agnosis («nicht wissen», z. B. agnostisch) mit Ontologie. Das daraus resultierende Konzept der «Agnotologie» ist ein nützlicher Gegenbegriff zur allgegenwärtigen Epistemologie und verweist auf die Notwendigkeit, Ignoranz ebenso ernsthaft zu untersuchen wie Wissen.

Für Procter ist das kein leeres Wortspiel, sondern geht auf Entdeckungen zurück, die er in seiner jahrzehntelangen Forschung durchführte zur Kampagne der Tabakindustrie den frühen Konsens der medizinischen Wissenschaft über die schädlichen Auswirkungen des Rauchens zu untergraben, was in seiner klassischen Studie über diese beschämende Kampagne “The Golden Holocaust” gipfelte.

Eine dieser Entdeckungen war ein internes Memo des Tabakkonzerns Brown & Williamson, das den Satz enthielt: “Doubt is our product since it is the best means of competing with the ‘body of fact’ that exists in the mind of the public. It is also the means of establishing a controversy” (Der Zweifel ist unser Produkt, denn er ist das beste Mittel, um mit den Tatsachen zu konkurrieren, die in den Köpfen der Öffentlichkeit existieren. Es ist auch das Mittel, um eine Kontroverse zu etablieren).

 

Neue Kreise der Ignoranz
Diese neuen realistischen Bewegungen sind nicht auf die bildende Kunst beschränkt. Die Literaturwissenschaftlerin Toral Gajarawala hat eine aufschlussreiche Analyse der so genannten «Finance Fiction» verfasst, ein literarisches Genre, das nach dem Finanzcrash von 2008 entstanden war. Bemerkenswerte Beispiele sind Zia Haider Rahmans In the Light of What We Know, Joseph O’Neills Netherland, John Lanchesters Capital und Mohsin Hamids How to Get Filthy Rich in Rising Asia.


Obwohl diese Romane analytisch und reich an Daten sind, gehen sie weit über die reine Beweisführung hinaus, wie Gajarawala hervorhebt: “for all the information these novels provide, their ultimate achievement is to draw a circle around our ignorance. Yes, it makes much of the raw data of experience, but only in order to direct our attention to the full range of our illiteracy” (Trotz aller Informationen, die diese Romane liefern, besteht ihre eigentliche Leistung darin, einen Kreis um unsere Ignoranz zu ziehen. Ja, sie machen viel aus den Rohdaten der Erfahrung, aber nur, um unsere Aufmerksamkeit auf die ganze Bandbreite unseres Analphabetismus zu lenken).

Gegen Ende des Artikels erinnert uns Gajarawala daran, dass die frühen modernen Realist:innen nicht nur Zuschauer:innen waren. Kunstschaffende wie Courbet und “novelists like Dreiser and Zola were committed socialists. Naturalism was a political project as much as an aesthetic one.” “Who,” she asks, “are their counterparts today?” (Romanciers wie Dreiser und Zola waren überzeugte Sozialisten. Der Naturalismus war ebenso ein politisches wie ein ästhetisches Projekt. Wer entspricht ihnen heute?)

 

Aus dem Englischen übersetzt von Stefanie Bräuer.