An die 300 Aktionen Pro Minute – Überlegungen zum Werk von Lawrence Lek

Boris Magrini, Co-Kurator der Ausstellung “Lawrence Lek: Farsight Freeport” bespricht in seinem Artikel die vielfältigen Verbindungen zwischen Künstlicher Intelligenz, Automatisierung von Arbeit und E-Sport.

Automatisierung der Arbeit

Bei Amazon werden die Bewegungen, Sorgfalt und Ausführung der Arbeitskräfte mittels eigens zu diesem Zweck entwickelter Armbänder überwacht. Folglich werden Angestellte, die das erwünschte Ziel nicht erfüllen, entlassen. Diese belastenden Arbeitsbedingungen sind die Konsequenz einer fortschreitenden Automatisierung vieler Produktionsbereiche und tragen zu einer weiteren Prekarisierung der Arbeitskonditionen bei. Roboter ersetzen menschliche Arbeit in Bereichen wie den Lagerhallen und den Verteilerzentren von Amazon, und in den meisten Branchen sieht es ähnlich aus, wenn Tätigkeiten automatisiert werden können. Amazon testet derzeit die Einführung von CartonWrap, einem Roboter, der 600 bis 700 Kartons in einer Stunde packen kann und damit vier- bis fünfmal schneller als ein Mensch ist. Ein weiteres Beispiel sind Chatbots, die Menschen im Bereich Empfangsdienstleistungen bei Onlinediensten ersetzen, ein wachsender Markt, der nun eine Wachstumsrate von 24 Prozent erreicht hat. Diese Bots werden nicht nur von den Besitzern der jeweiligen Firmen begrüßt, auch Kunden scheinen sie menschlichen Angestellten vorzuziehen, wie Studien in den USA herausgefunden haben.

 

Künstliche Intelligenz in Strategischen Spielen

 

Selbstverständlich können Menschen, in Bereichen in welchen Leistung nur durch Schnelligkeit der Ausführung gemessen wird, nicht gegen Maschinen ankommen. Doch was ist mit Aufgaben, deren Ausführung sowohl Schnelligkeit als auch komplexes logisches Denken erfordert? Ein Strategiespiel wie Schach wurde lange als besonderer Bereich betrachtet, in dem aufgrund seiner Komplexität nur Menschen glänzen können. 1997 jedoch bewies Deep Blue, dass rohe Kalkulation – also Schnelligkeit in der Analyse großer Mengen an Variablen und ihren Folgen – ausreichte, um den Weltmeister Garri Kasparov zu schlagen. Neunzehn Jahre später erlitt das Brettspiel Go, das noch weitaus höhere Kombinationsmöglichkeiten als Schach bietet, ein ähnliches Schicksal, als das künstliche neuronale Netzwerk AlphaGo den Weltmeister Lee Sedol schlug.

Wenn Schach und Go die altmodischen Strategiespiele symbolisieren, dann sind moderne Videospiele wie StarCraft ihre zeitgenössische Entsprechung. StarCraft ist ein beliebtes kompetitives Echtzeit-Strategiespiel, das weltweit von professionellen Spieler*innen gespielt wird. Elektronischer Sport, kurz eSports, ist eine wachsende Branche, welche 2018 ein Publikum von ca. 380 Millionen Menschen erreichte und einen globalen Umsatz aufweist, der 2019 über einer Milliarde zu liegen kommen wird. Die Komplexität des Spiels StarCraft rührt aus den Möglichkeiten der Aktionen und Befehle, die die Spieler ausführen müssen, um ihre Einheiten in einem schonungslosen Kampf gegen den Gegner aufzubauen und zu koordinieren. Da das Spiel in Echtzeit und nicht rundenbasiert gespielt wird, kommt es darauf an, wie schnell der Spieler oder die Spielerin ihre Aufgaben ausführen kann, darunter die Ausbildung von Einheiten und der Bau von Gebäuden, deren Verwaltung und ihre Manöver. Spieler*innen werden oft nach ihren APM, ihren Aktionen pro Minute, beschrieben und bewertet, die Auskunft darüber geben, wie viele Befehle sie wie schnell erteilen können. Professionelle Spieler*innen schaffen in der Regel mehr als 300 APM, insgesamt viele tausend Aktionen pro Spiel, darunter schnelle und strategische Entscheidungen. StarCraft professionell zu spielen ist harte Arbeit, und der APM-Messer spricht Bände über die Anstrengungen des Spiels. Es ist wie in den Verteilzentren von Amazon: Spieler*innen und Arbeiter*innen müssen schnell, effizient und präzise sein, um ihre Aufgaben erfüllen zu können.

Genau wie bei Schach und Go zuvor glaubten die Menschen, dass ein Computerprogramm unmöglich in der Lage sein würde, mit den besten Spieler*innen eines komplexen Spieles wie StarCraft mitzuhalten. Und doch bastelt das Team von AlphaGo bereits an der Entwicklung eines ähnlichen Programms, das auf den Grundlagen des maschinellen Lernens aufgebaut wird und bereits vielversprechende Ergebnisse liefert. Während Bots Menschen zunehmend in der Produktions- und Verteilerbranche ersetzen, wie es am Beispiel von Amazon deutlich wird, und in Strategiespielen wie Schach, Go oder StarCraft, taucht künstliche Intelligenz zunehmend auch im Kreativbereich auf, wo sie so unterschiedliche Abläufe wie Optimierung von Musik und Bildverarbeitung übernimmt.
Man könnte sich fragen, ob, wenn wir irgendwann erfolgreich darin waren, uns selbst mit Maschinen zu ersetzen, und zwar in jedem Aspekt unserer Aktivitäten – darunter Arbeit, Unterhaltung und Kreativität – überhaupt noch Motivation zum Leben für uns übrig bleibt?

 

Leks dystopische Zukunft: Farsight und Playworkers

 

Das Schicksal unserer Spezies und dessen Bedrohung durch die Beschleunigung der Automatisierung, ist die dramatische Grundfrage welche die meisten Arbeiten von Lawrence Lek durchzieht. Seine Farsight Corporation war zunächst eine fiktionale Firma, die in mehreren Videos und immersiven virtuellen Welten auftaucht; doch 2018 liess der Künstler sie schliesslich als GmbH registrieren, um seine Produktionen zu fördern. Das Hauptziel von Farsight in Leks fiktionalem Universum ist die Förderung und Entwicklung künstlicher Intelligenz auf allen Ebenen der Produktivität. Wenig überraschend werden die Angestellten bei Farsight als Playworkersbezeichnet, die Vermischung der professionellen StarCraft-Spieler*innen und die Angestellten bei Amazon schafft gewissermaßen die endgültige Arbeiterklasse. In der Realität taucht diese Tendenz bereits immer öfter auf: Homeoffice, Crowdsourcing und Livestream sind nur einige Beispiele neuer Arbeitsbedingungen, die als flexibler und angenehmer gepriesen werden, während dies in der Realität mit geringerer sozialer Sicherheit einhergeht. Neomarxistische Philosophen wie Herbert Marcuse und in jüngerer Vergangenheit Richard Barbrook haben die Automatisierung der Arbeit und die industrielle Entwicklung von künstlicher Intelligenz einhellig verurteilt und bekräftigt, dass ihre Anwendung dazu dient, den Profit zu maximieren, während sie zugleich Arbeitslosigkeit und schlechtere Arbeitsbedingungen für Arbeitskräfte bedeuten. Denn nicht nur mühsame Routinetätigkeiten können von Robotern ersetzt werden; zunehmend werden auch komplexere Aufgaben erfolgreich von Algorithmen übernommen, darunter medizinische Diagnosen, selbstständiges Fahren, Übersetzungen und kreative Produktion. Unbestreitbar entstehen durch die Einführung der Automatisierung auch neue Jobs; trotzdem ist die Diskussion um die Umverteilung des generierten Reichtums weiterhin dringlich und notwendig.

Die Welten von Lawrence Lek zeigen verlassene Gebäude und Landschaften. Sie spiegeln eine Zukunft, in der die Menschheit keine Bestimmung mehr hat. Scheinbar zeigen sie das tollste Resultat der Automatisierung; eine Perspektive, in der die Menschen frei von der Last der Arbeit sind sich endlich der endlosen Unterhaltung hingeben können, eingenommen von der digitalen Realitätsflucht virtueller Realität und Videospielen. Leks visionäre Städte und Open-World-Games haben jedoch einen bitteren Beigeschmack: Sie sind erfüllt von einer melancholischen Atmosphäre, in der die Gebäude unverhohlen jeglicher organischer Lebensformen entbehren. In diesen optimierten Strukturen, in denen jede funktionale Aktivität langsam von intelligenten Maschinen übernommen wird, scheinen die Menschen keine Bestimmung mehr zu haben. Derweil weisen diese Maschinen zunehmend ausgefeilte kognitive und emotionale Züge auf und erfüllen damit immer besser die Prophezeiung der technologischen Singularität.

 

Von Cyborgs und Menschen, einer bittersüssen Romanze

 

In seinem neuesten Langfilm AIDOL kommt der Kampf zwischen organischer Intelligenz und synthetischem Leben an einen Wendepunkt und wird auf drei allegorischen Ebenen dargestellt: Auf einer kompetitiven Ebene kämpfen Menschen und Roboter in eSports-Wettkämpfen gegeneinander, auf einer politischen Ebene versuchen Menschen, die Autonomie der Maschinen über die Gesetzgebung einzudämmen, während auf einer symbolischen Ebene Menschen versuchen, auszuloten, was ein Eingreifen der Automatisierung in den kreativen Bereich bedeuten würde. Dargestellt wird dies am Beispiel von Diva, der Singer-Songwriterin, und ihrer Zusammenarbeit mit dem fühlenden Satelliten Geomancer. Der Film reflektiert viele gegenwärtige Themen, die mit der Entwicklung und Einführung von künstlicher Intelligenz in unserer Gesellschaft einhergehen. Fragen nach Gesetzgebung und Verantwortung, zum Beispiel in Rechtstreitigkeiten in den Bereichen selbstfahrende Autos, autonome Waffensysteme und medizinische Diagnosen.
Leks Werk hebt die Einführung von intelligenten Algorithmen in die Unterhaltungs- und Kreativindustrie und deren Auswirkung auf die Entscheidung der Konsumenten hervor; aber auch die Unsicherheit über unser Schicksal als Spezies und die Möglichkeit anderer Superintelligenzen.

Die beiden Protagonisten in AIDOL, ein Mensch und eine künstliche Intelligenz, beschließen, sich über den egoistischen Standpunkt ihrer jeweiligen Spezies hinwegzusetzen und komponieren zusammen ein neues Lied. Dies geschieht trotz eines Verbots, dass die Menschen den Maschinen auferlegt haben und der daraus resultierenden gegenseitigen Abneigung der beiden Gruppen. Während andere Drohnen und Bots im letzten Kapitel des Films ihren Angriff auf menschliche Einrichtungen beginnen, zeigen Diva und Geomancer ein mögliches Happy End auf, indem sie einen produktiven Dialog zwischen Menschen und Maschinen führen. Sollten wir uns für die Zukunft der Menschheit einen ähnlichen Ausgang wünschen? In Wirklichkeit leben wir nicht in einer romantisierten Fiktion: Die Idee eines fühlenden Roboters ist im besten Fall ein gängiges Science-Fiction-Klischee, wenn nicht gar ein cleverer Mythos, den sich IT-Firmen und die Verteidigungsindustrie ausgedacht haben, um uns davon abzuhalten, viel realere, jedoch schwer fassbare Risiken künstlicher Intelligenz überhaupt wahrzunehmen, wie einige Medientheoretiker behaupten. Obwohl es eher unwahrscheinlich ist, dass wir in der nahen Zukunft mit Laserschwertern und Atomraketen gegen fühlende Roboter kämpfen werden, müssen Maschinen nicht fühlen können, um bösartig zu sein. Sie schaffen bereits heute Arbeitslosigkeit, bestimmen unsere Wahl der Unterhaltung und unseres kulturellen Konsums und beeinflussen unsere Wahlen. Sie agieren nicht selbstständig, sondern werden von den Agenden unsichtbarer Kräfte gesteuert. Am Ende wird es nicht um die Frage gehen, ob wir den Zusammenstoß von Menschen und Maschinen überleben werden, sondern darum, wie wir sicherstellen können, dass sich diese in ein gerechteres und demokratisches System einfügen.

Text von Boris Magrini, Co-Kurator der Ausstellung Lawrence Lek: Farsight Freeport

Übersetzt von Janna Düringer, Pingpong Translation & Subtitling.